Atides dylli Ayodôn

Kanzleirätin

"Mein Name ist Atides dylli Ayodôn, Tochter des Cyclopäers Iolaos dylli Ayodôn und seiner Gemahlin Zahît Mezkarai. Über meine edle Geburt habe ich mir weder jemals etwas eingebildet noch WUSste ich, was es für mich bedeutet. Vielleicht beginne ich es heute erst zu verstehen. Ist in den Tagen meiner Kindheit und Jugend etwas geschehen, was mich wirklich berührt oder fasziniert hätte ? Nein. Vielleicht ist das der Grund für meine hochgesteckten Ziele.
Was für Ziele ? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich neugierig bin. Die Welt möchte ich sehen. Ich möchte in Kuslik über die Prachtstraßen schlendern und in den Schaufenstern die neusten Moden begutachten, in Vinsalt die Oper besuchen, in Punin das Pentagrammaton bestaunen, in Khunchom über die Fürst-Istav-Allee schlendern und der Sphingis von Fasar Rätsel aufgeben. Ich möchte...Ich bin mir nicht sicher, ob ich all das wirklich möchte. Ich weiß nur, dass ich nicht in einem Jahr mit aufgeblähtem Bauch ein Balg vor mir herschieben will, es nähren, großziehen und all die anderen grässlichen Dinge tun, für die ich noch viel zu jung bin. Ich weiß, dass größere, erhabenere Ziele auf mich warten als zu einem fremden Mann in einen uralten finsteren Palast verheiratet zu werden. So grausam kann das Schicksal, können die Götter nicht sein, mein Leben zu beenden, bevor es anfing.
Ich weiß, das ich demütig und dankbar sein sollte für mein Leben, für all die Vorzüge dich ich genieße. Ich kann mich soweit es meine Geburt zulässt entfalten. Ich kann mich in den Werken Caraderios, Imayls und Schönbaums und den Gedichten Feccatieros verlieren, horasischem Spinett lauschen, durch Gärten spazieren - ich muss nicht reisen, um die Welt kennenzulernen - ich kann sie mir hierher holen, auch wenn ich hier am weitesten von allem entfernt bin. Ich kann mich meinen Blumen widmen, der Armenfürsorge, der Handarbeit, dem Studium klassischer Werke. Das Leben an mir vorbeifließen lassen.


Der Mann, der mich ehelichen wird - er stammt übrigens aus einer verknöcherten alten Kemisippe -, wird mit mir zufrieden sein können. Ich bin schön. Ich habe das Profil einer bosporanischen Plastik und ebenso deren elegante, hochgewachsene Gestalt. Ich habe einen sinnlichen Mund, klug und erwartungsvoll blickende Augen, mein Gesicht strahlt SelbstbeWUSstsein aus. Das schwarze Haar ist füllig und wallend, ich stecke es zu Steckfrisuren zusammen.
Ich rieche gerne gut! Dass ist sehr wichtig für mich. Viele Frauen sind schön und sinnlich. Aber die meisten achten nicht auf ihren Geruch. Die einen lassen alles weg und riechen zum Rahjaerbarmen, bei den anderen ahnt man zwar, dass sie mit ihrem Duftwasser die Ausstatter um Dukaten reicher gemacht haben, mehr aber auch nicht. Dazu kommt noch der Geschmack. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Liebhaber "Kanäle von Grangor No.5" auf der Zunge hat, wenn er mich schmecken will... Deswegen bevorzuge ich feine Öle. Ich möchte ein Fest für jeden Sinn sein. Mein Ehemann soll mich anbeten können, hassen kann ihn immer noch ich.
In Wirklichkeit erhält der Ärmste doch ein Koboldsgeschenk. Ich habe grauenvolle Seiten an mir. Ich bin gierig, herrschsüchtig, besserwisserisch, altklug, launisch, unzufrieden, überwachend, habe einen exquisit teuren Geschmack, eine niedere Moral, ein viel zu aufgeklärtes Götterbild und werde sicherlich eine Rabenmutter. Meine Mutter sagte einmal, dass man mir meine Rondrageburt anmerke bei allem, was ich tue. Dazu stehe ich! Ich weiß nicht, wer denn kemschen Verhaltenskodex aufgestellt hat. Ich liebe es spontan zu sein, aufbrausend, streitsüchtig. Ich möchte nicht unkompliziert sein. Wenn das meinen Lebensweg steiniger macht...nun gut!"

(Erster Eintrag in das Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn, 21 S.G.)


"Ja, es hat ihn steiniger gemacht, meine Liebe. Aber auch um wie vieles glücklicher und reicher. Ich möchte nicht in Wehmut verfallen über den Verlust der Ideale meiner Jugend, wenn ich meine alten Einträge durchsehe. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern. Zu jung bin ich auch noch dazu, mein Leben liegt immer noch vor mir. Ich bin immer noch aufbrausend, besserwisserisch und launisch. Ich bin aber zur eigene Überraschung eine gute Mutter geworden. Seitdem die Kinder ihren Vater oder zumindest dessen Liebe verloren haben, lasse ich Boronya Nemekathé und Kemet Balträa sogar noch mehr Liebe angedeihen. Aber keineswegs bin ich mütterlich, weich oder sogar schwach. Im Gegenteil. Meine Ehe war ein wohl größerer Kampf als die Unabhängigkeitskriege, bloß fand er auf der Ebene des Geistes statt. Bei beiden Seiten ging es um das Überleben, um die nackte Existenz. Ich bereue ihn nicht. Es hat mich gestählt. Was hätte ich davon, mich selbst zu zerfleischen für Dinge, die ich gesagt habe, getan habe. Die Entscheidungen von gestern zu verurteilen heißt mein Leben von heute in Frage zu stellen.
Ich bin, jetzt und heute, glücklich. Was für ein Hohn, nicht wahr. Wie kann ich, gestrandet in einem öden Paradies wie Taimen, glücklich sein? Wie kann ich glücklich sein in einem halbverfallenen Palast, mit einem Ehegatten, der mich und meine Kinder hasst wie die Niederhöllen, und einer Sippschaft, die mir allein die Schuld dazu gibt ? Verdorrt man nicht, verkümmert nicht der Geist, der Geschmack, die Liebe ? Keineswegs. Ich kam über die Katastrophe schneller hinweg, als ich erwartet hatte. Die Wunde einer verflossenen Liebe heilt niemals, sie verkrustet nur und kann jederzeit wieder aufbrechen, das weiß ich. Aber die Zeit vergeht, und man ist wieder offen für eine neue Liebe, die wiederum die erste tatsächliche zu sein scheint. Ich weiß gut, dass ich mit ihr meinen Titel, meine Ehre besudelt habe, dass es nicht meiner Würde entspricht, einen einfachen Fischer im Dorf zu lieben. Aber bin ich hier nicht im Paradies ? Er ist unserer Tochter Jesabella und ihren beiden großen Halbgeschwistern ein besserer Vater als es Boronian jemals war. Er ist liebevoll, zärtlich, feinsinnig, mitfühlend, schön wie Khabla -und ein Liebhaber wie dessen Sohn. Er ist kein Favorit für mich, mit dem ich mich über die Einsamkeit einer vernachlässigten Ehefrau hinwegtröste. Ich liebe ihn.


Und auch sonst läuft in meinem Leben alles bestens. Neben einer guten Mutter für meine Kinder versuche ich das selbe auch für meine Untertanen zu werden. Ich käme mir schäbig vor, auf Kosten meines Mannes mich mit meinem Liebsten zu vergnügen, so versuche ich, noch härter zu arbeiten als er selbst. Ich glaube mich rühmen zu können, kein Goldstück unseres ruinösen Haushalts vergeudet zu haben. In unserem Haushalt wird noble Armut gepflegt. Trotzdem, ich widme mich der Armenfürsorge. Und auch dem Studium klassischer Werke, der Handarbeit, dem Spinnet- ein kleines Abenteuer, es zu erhalten - und der Literatur. Meine Schriftstellerei treibe ich zur Zeit voran, einige meiner Gedichte und Erzählungen konnte ich sogar dank der Kontakte meines Schwagers Amenkhares, der mir in den letzten Jahren ein teurer Freund und unerbittlicher Kritiker meiner Arbeit geworden ist, unter Pseudonym in einigen Literaturzeitschriften Bosporans veröffentlichen. Zwar war der Erfolg nicht überwältigend, aber ich habe die Möglichkeit, meinen ersten Roman in Druck zu geben.
Ich habe Táîmen lieben gelernt. Es ist wirklich ein Paradies. Ich liebe das Meer, den Dschungel, die Seen. Aber auch die Menschen. Nicht nur wegen meines Geliebten. Sie sind freundlich, offen, ungezwungen, oft schamlos und sehr, sehr liebevoll. Ich weiß nicht, ob das "einfache Volk" überall so vollendet ist wie hier. Jedenfalls halte ich es keineswegs für einfach. Ich genieße es in den wenigen Momenten, die es die Etikette erlauben, unter ihnen zu weilen. Aber das gute an einem Mann, der nicht mit einem spricht, ist, dass es niemanden gibt, der mir nun gleich ist und maßregeln darf. So liegt es in meinem Ermessen, wie ich mit ihnen umgehen muss, damit sie uns ehren und fürchten.

(Eintrag in das Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn, 28 S.G.)