Boronian Me'káth

"Boronian Me'káth? Ich weiß nicht viel über ihn. Sicher, seine Familie ist vielleicht ebenso alt wie die unsere, aber die Me'káths haben es nie geschafft, die Möglichkeiten, die in der Veränderung und in neuen Einflüssen liegen, zu nutzen. Möglicherweise ändert sich das, wenn sie mehr Verantwortung übertragen bekommen. In die Familie einzuheiraten, war sicherlich eine strategisch gute Entscheidung, auch wenn mir meine Nichte sehr leid tut... menschlich ist ihr Gemahl sicherlich kein einfacher Umgang..."
(Quenadya Mezkarai, Sahet Ni H'Anyârco)


"Die Me'káths sind das Paradebeispiel von Verfall, der direkt aus der Dekadenz mündet. Sie sind bisher ihrer Rolle und Aufgabe in diesem Lehen nicht gerecht worden. Ich bin ja beileibe kein Freund von ethnologisch motivierten Belehnungen, aber die neue Ordnung des Reiches gebietet mir, die Traditionen in der Förderung dieser Familie zu berücksichtigen."
(Dio Cardassion de Cavazo, Kanzler der Kemi)


Wenn ich ihn heute sehe, seine Gestalt, seinen bronzefarbenen, säuberlich enthaarten Leib nur von einem nachtschwarzen, exakt gefälteltem Seidengewand verhüllt, ein kostbares Rabenpektoral und geflochtene Sandalen angelegt, würdevoll und stolz die Bürde seiner Familiengeschichte tragend, glaube ich noch den Mann zu erahnen, den ich einst einmal geliebt habe. Es ist sein Gesicht, das sich gleich seiner Seele von Boronian Me'káth in Veser-Ra-Tep Me'káth zurückverwandelte, das Gesicht, das mich heute anblickt wie einen dämonischen Versucher, der ihm nichts mehr anhaben kann. Seine sinnliche Leidenschaft in der Liebe zu mir, die heiße, kompromisslose Anbetung seiner Tochter verwandelte sich in ebenso leidenschaftlich kompromisslosen Hass, längst nicht nur uns, sondern seinem Leben und seinen Mitmenschen gegenüber, die ihn von seinem vorbestimmten Lebensweg abgebracht und ihn in jenes zwittrige Wesen verwandelt haben, als das er sich heute sieht. Seine Augen, seine schwarzen Augen mit den so zarten langen Wimpern und den rasierten Brauen, einst in ihrem unergründlichen Feuer meine Glut erhitzend in schwüler Nacht, verbrennen mich heute in ihrer herabschätzend lodernden Abscheu von innen. Seine sinnlichen, vollen Lippen, sein weiches, zart feminines Gesicht sind zu einer Maske des Ekels erstarrt. Einige sagen, sein Blick zeuge von unverbrüchlicher Loyalität, von Treue, Gewissen, Ehre, gar absoluter Ehrlichkeit- was wohl tatsächlich in unserem Stand, in unserem Land eine Seltenheit darstellt - ich weiß, dass es die Loyalität eines Menschen ist, der sein Leben im Tod sucht und dessen Ziele nur noch der Erhaltung der gefährdeten Familiengüter und alter Clanprivilegien dienen. Er ist ein Fatalist, Fundamentalist, hasst alles neue und Fremde und sieht in der Einhaltung der abertausend göttlichen Gebote den einzigen Lebenszweck. Gesprochen hat er seit wohl fünf Jahren mit niemand mehr etwas außer geschäftliches, sein Leben selbst findet nicht mehr im Hause, sondern in den alten Tempelruinen statt, die er Nächte lang zu Meditation und Gebet aufsucht.
Ich weiß, dass das, was er sucht in Boron - Vergebung, Trost, Bestätigung, Ruhe - niemals finden wird. Zu sehr hatte er die Genüsse dieser Welt kennen gelernt und als ob es kein morgen gäbe davon getrunken in seiner Jugend, als dass sie ihm - ich ihm - aus seinen Gedanken weichen könnten. Je mehr er es versucht, desto mehr wird es ihn zerreißen, ihn aushöhlen und zernagen. Seit seiner Jugend, als er den hohlen Titel des Patriarchen des dünnblütigen Me'káth - Clans erbte nach der göttergewollten Ausrottung seiner Sippschaft, als er die von den Vätern und Vorvätern auferlegten Meditationen und Gebete, die seine in ihm schlummernden Kräfte hätten kontrollieren können, aufgab, weil er sie hasste, wie er sein ganzes in Traditionen, Stille und Armut ersticktes Leben hasste, weil er sie hasste, wie er heute sein neues altes Leben hasst, seit dieser Zeit, in der er alle Triebe und Begierden, Wünsche und Leidenschaften kennen lernte, sich hemmungslos ihnen hingab, was ihm heute und damals verboten, seit dieser Zeit hat er etwas in sich geweckt, etwas von dem er weiß, dass es niemals schweigen wird, dass es schreit in der emsigen Stille des Arbeitszimmers, dass es schreit in der kalten Stille der Nacht, dass es schreit in der asketischen Stille der Tempelruinen, dass es ihn martert, weil er es darben lässt und verkümmern. Die Erinnerung an sein Leben, die Erinnerung an seine Liebe...
Es wird ihn zerbrechen. Für mich wird es Genugtuung sein, Linderung der Wunde, die er mir zugesetzt hat. Heilen wird es mich nicht.

(aus dem Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn)


Ich kenne meiner Schwägerin Urteil über meinen Bruder sehr genau. Ich kann es sogar verstehen. Doch sie kannte ihn, im Gegensatz zu mir, nie in seiner wahren Gestalt. Jeder Mensch ist nur die Summe seiner Teile, sagte mein Professor stets, und treffender könnten diese Worte nicht sein meinem Bruder gegenüber. Wir wurden geboren in einer bewegten Zeit in unseren Landen, die Heldentaten der erhabenen Nisut und ihrer Getreuen werden unvergessen sein, wir aber sahen nur die Schattenseiten dieses Glanzes. Plünderungen und Zerstörungen zerrütteten unsere Familie und der Tod fast aller unseres Clans in diesen Zeiten raubte uns unsere Wurzeln. Es war jene Zeit, in denen unser Vormund und letzter Überlebender der Großjährigen unserer Sippe, Vaterbruder Meröet-Erôn, dem Glauben verfiel, noch mehr Entbehrung, noch mehr Schweigen, noch mehr innere Kälte, in seinen Augen der reinste Weg zu sittlicher Stärke und Vollkommenheit, würden uns reinigen vom Zorn Borons, den er über uns wähnte, und so wurden wir von ihm, der uns Vater und Mutter sein sollte und doch beides nicht war, in den Übungen der Selbstvertiefung und den Morallehren des Veser-Ratep unterrichtet.
Doch während mir die Möglichkeit gegeben wurde, mit meiner Großtante nach Vollendung des zehnten Lebensjahrs in die Lande der Horas zu reisen und wenn auch in Armut den Luxus all der freien Gedanken und Genüsse zu Methumis zu genießen, die Leiden der strengen Zucht zu verdrängen und meinen Geist zu entfalten, und während meine Schwestern ihm entfliehen konnten durch frühe Heirat, war Boronian ihm stets gänzlich ausgeliefert. Denn in ihm keimte eine Macht, mit der seit Jahrhunderten unser Blut gesegnet war, eine Macht, die auch in meinem Vaterbruder ruhte und die dieser zu stärken gedachte durch vielerlei Übung. Doch während er die Macht stärkte und formte und sie gedieh durch sein Tun, verkümmerte die Hülle der Macht, mein Bruder. Schreckliches muss er erlitten haben in dieser Zeit, und all die dunklen Seiten des Seins, die heute sein Wesen beherrschen wurden damals geweckt von der kalten Hand des Meröet-Erôn. Was zu den Zeiten geschah, als aus dem Zögling ein Mann reifte, als er mit all die Kraft der Jugend seinen Hass nährte, auf Meröet, auf die Traditionen unseres Clans, auf seine Einsamkeit, auf sein Schicksal, auf sein Leben...weiß ich nicht zu sagen. Nur eins weiß ich: Dass Meröet seinen Tod fand bei einem Streit mit seinem Schüler. Die Mächte, die er genährt hatte mit dem verlorenen Glück der Jugend, denen er versucht hatte, Boronian selbst zu opfern, wandten sich gegen ihn, wie so oft in der Geschichte.
Niemand berichtete je von diesen Vorfällen. Mein Bruder jedoch stürzte sich in das Leben, entdeckte die Freuden der diesseitigen Welt. Er bereiste die Länder des Südens, lernte die Genüsse der Speisen, der Bildung und gar die der Liebe kennen. Und nicht nur das: Als neues Sippenoberhaupt eiligst für großjährig erklärt, öffnete er unser Haus der neuen Zeit, konsolidierte unsere Macht wenn nicht politisch dann doch wirtschaftlich zu alter Größe. Von seinen Sternenmächten beschützt und durch die Würde des Familiennamens begünstigt, gelang es ihm gar, mit Atides dylli Ayodon einer Frau angetraut zu werden, deren noble Herkunft aus den edelsten Linien der Inselreiche von Kemi und Cyclöpäa ihn wieder in die Welt der neuen Großen des Reiches brachte. Ja, glückliche Zeiten waren über unserem Haus angebrochen, der Schleier des Vergessens schien sich zu lichten, der faulige Geruch jahrhundertelangen Moderns schien verzogen. In seiner Frau fand er nicht nur eine noble und geistreiche Freundin, interessierte Beraterin und ehrgeizige Mitstreiterin, sondern gar eine Geliebte. Bald wurde Boronya Nemekathe geboren, auch ich verbrachte wieder immer mehr Zeit im alten Palast unserer Sippe.
Die alten Traditionen, das zurückgezogene Leben in Stille, die Meditationen, die dunklen Riten, die unserer Familie über so lange Zeit den Fortbestand gesichert hatten, vergaßen wir und verdrängten sie. Waren sie aber für uns nur mehr eine verblasste Erinnerung an eine schmerzvolle Kindheit, waren sie für meinen Bruder, der so lange so einsam durch ihre kalte Hand erzogen wurde, viel mehr gewesen. Die dunklen Lebensweisheiten seiner Jugend, die er doch mit dem Mord an meinem Vaterbruder überwunden zu haben schien, bestimmten noch immer sein Gewissen, immer wieder verfiel er in Melancholie und Düsternis, schien aus der Welt entschwunden zu sein. Der alte Moralcodex, so sehr seinem neuen Leben widersprechend, nagte an seiner Seele mit Vorwürfen. Niemals war Boronian sicher gewesen, dass er in seiner Rolle als Familienoberhaupt nicht Schande und Unglück mit seinem verruchten Lebensstil über uns alle bringen würde, müsse er doch ein Vorbild an tugendhafter Gottesfurcht sein. Doch solange uns das Glück hold war, solange wir gesegnet waren, obsiegten seine Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern.
Bis zu jener Nacht: ich erinnere mich noch an sie, ein lauer Abend hatte sie eingeleitet. Dame Atides stand vor ihrer Niederkunft mit ihrem Sohn, den sie später Kemet heißen würde. Doch in dieser Nacht sah es nicht danach aus, als ob sie oder ihr Kind die Geburt überleben würden. Ich kann und möchte nicht mehr darüber schreiben als notwendig. Ich weiß nur, dass es der Beschluss Borons gewesen war, das Leben Dame Atides und ihres ungeborenen Kindes an sich zu nehmen. Ein Beschluss, den Boronian als Strafe für seine Sünden ansah. So nutzte er seine verborgene Macht um Boron zu trotzen, und in finsterer Zauberei riss er die Toten von Golgaris Schwingen herab. Sie überlebten beide und genasen. Doch mein Bruder war - nach Tagen völliger Regungslosigkeit- wieder in sein altes Gefängnis der Dunkelheit zurückgekehrt. Er weiß, dass er sich an Boron höchstselbst versündigt hat, und er weiß, dass ihn das sein Seelenheil kosten wird.

(aus der Korrespondenz des Amenkhare Me'káth)


 

Boronian Me'káth nahm seine Aufgabe als Akîb nur ungern an, ist er doch den weltlichen Angelegenheiten mehr und mehr abhold. So trat er nach kurzer Zeit gerne zugunsten seines verhaßten und mittlerweile von ihm verstoßenen Verwandten Kemet'amûn zurück, auch das Amt des Inquisitionsrates von Djunizes legte er bald nieder und beschränkt sich seitdem darauf, den Untergang seiner einstmals mächtigen Familie zu überwachen.