Die Familie Me'káth

Über eine alteingesessene Familie aus Djunizes

 

"Wer, wer nur oder was hat den Fluch über uns gebracht und ließ das Verderben Einzug halten in unserem Haus? Je mehr ich diese Fragen höre, immer und immer wieder litaneiartig wiederholt von denen, die am wenigsten Anteil haben am Schicksal unseres Clans und ihrer selbst, desto mehr frage ich mich, ob es so etwas für uns jemals gab: Katastrophe. Niedergang. Entehrung. Verlust. War das nicht schon immer Teil unserer Familie ? Haben wir Trägheit, Öde, Unlust und Lethargie nicht aufgesogen wie Muttermilch, geradezu als herausragende Eigenschaft, als Charakteristikum unseres Hauses gefeiert? Hat jetzt nicht nur alles eine vollendetere Qualität der Katastrophe erhalten ? Eine, die uns endlich zu einer Beschäftigung mit Uns, unseren Traditionen, unseren Idealen zwingt ? Eine Art Fieber, das uns erst die Krankheit bemerken lässt, die lange schon sich in den Leib gefressen ? Teurer Freund, zu wenig weißt du über meine Familie. Du konntest in mir immer lesen wie in einem Buch, das habe ich immer an dir bewundert, und keine Zeit tat es Not, dich mit 2000 Jahre und mehr in Versagen gereifter Familientradition zu belasten, um mich zu verstehen. Jetzt aber brauche ich deinen Rat für mein Haus, nicht für mich, jetzt muss ich dich also belasten. Und somit dir alles erzählen:

 

Wie lange es unser Haus nun schon gibt, wissen wohl allein die Götter. Aber wir waren immer Meister der Selbstinszenierung. Seit Jahrhunderten betonen wir alle bei jedem unserer seltenen Auftritte vor allen, die es wissen oder auch nicht wissen wollen, dass wir das Haus Mekath sind, eines der ältesten Häuser des Reiches, dass wir schon zu den Großen der Lande unter Djeser II. zählten - Es würde mich nicht wundern, wenn unsere Familie in Wirklichkeit von einem Rohrschneider und einer läufigen Hündin abstammte, und tatsächlich ist es das, was wohl jeder in der Familie nun schon seit Jahrhunderten fürchtet. Wie sonst wäre es zu erklären, dass über die Geschichte unserer Familie nicht eine Zeile verschwendet wurde, wenn nicht aus Angst, zu erfahren, dass wir nicht aus dem Nebel der Geschichte traten wie Rohal auf dem Einhorn ? Dass wir abstammen von einem stinkendem Barbaren, der für die Heldentat, mit seinem schwitzend eklen Leib eine einem der Großen zugedachte Speerspitze abzufangen, belohnt wurde mit Land und Titel? Die Himmlischen waren gnädig. Über die Mekath zu ihrer großen Zeit liegt ein Schleier des Vergessens. Und da das Verhüllte immer verführerischer und erhabener ist als das sachlich bloßgelegte - was dir wohl auch jede Dienerin der Rahja gerne bestätig t- gilt unsere Familie als von ältestem, unverfälschtem Adel. Doch als mehr gilt unsere Familie nicht, denn das, was jedes andere alte Adelshaus ausmacht - die Bewahrung von Titel, Land, Reichtümer durch die Geschichte hindurch, in dunklen wie strahlenden Zeiten - kennen wir Mekaths nicht. Nicht das wir versagt hätten - Boron bewahre - viel mehr hatte irgendwann eine Philosophie in unseren Köpfen Einzug gehalten, deren verlockende und erfrischende Einfachheit uns bis vor kurzer Zeit konservieren sollte. Eine Philosophie, die, wohl zu unserer erhabensten Zeit unter Rhonda IV. niemals uns berührt hätte, aber in den Jahren des Verderbens und Chaos langsam sich ausbreitete wie ein lähmendes Gift in unserer Blutlinie. Nach dem Untergang der Kemi, dem Untergang unserer Kultur, unserer Welt zogen wir eine Lehre. Es wurde zu unserer Maxime, dass das Leben selbst völlig sinnlos, ja gar eine Strafe des Veser sei, um uns die wahre Schönheit des Todes erkennen zu lassen. Schweigen, Rückzug, Rausch, Einsamkeit wurden erstrebenswerte Tugenden. Macht, Reichtum und Ansehen spielten keine Rolle mehr. Was war schon Reichtum gegen endlose Erhabenheit? Unser Adel bewahrte sich nicht durch unseren Weitblick, unsere Intriganz, unser politisches Geschick; er bewahrte sich aus dem Wissen heraus, als Mitglieder einer längst vergangenen Epoche der Kemi nur mehr Zuschauer des Welttheaters zu sein. Die Herrscher des Stammlehens der Mekath, Táîmen, kamen und gingen. Horasier, Garether, Priesterkaiserliche, Zauberer, Brabaker. Für uns, längst in dem in den Urwäldern gelegenen verfallenden Palast die Kunst fürstlicher Armut vervollkommnend, spielte das keine Rolle. Nicht einmal die Zerstörung von Stadt und Tempel nahm man war, galt doch das Reich als untergegangen und galt es sich doch durch Rausch, Exzess, Meditation und Gebet auf des wahre Leben vorzubereiten. Das Leben draußen, nur flüchtig gekannt durch seltenen Kontakte und spärliche Auftritte, galt als fremd und kulturlos, Wir nahmen es mehr durch einen Schleier war, vielleicht so, als wenn man durch ein schwarzes Auge blickte. Dies wäre jetzt eine schöne Geschichte, nicht wahr, teurer Alexis? Eine Geschichte, wie sie, selbstredend ausgeschmückt mit weiteren exotischen Begebenheiten, in den Salons eurer Ethnographischen Vereinigung für glänzende Augen und sehnsüchtig träumerische Seufzer bei den von der Gesellschaft ermüdeten Damen sorgen könnte. Doch das Leben ist nicht perfekt, mein Freund; die Geschichte geht weiter. Und der Schluss wird jede Romantik verderben. Nein, kein Schicksalsschlag, der uns vernichtete. Auch nicht unser inzestuöses Blut, das sich hunderter Jahre der Schande grausam mit Unfruchtbarkeit rächte. Vielmehr durch eine Laune der Geschichte, einen Schwank der Weltenbühne heraus, holte uns doch noch die Geschichte ein, ironischerweise nicht durch den Untergang, sondern durch den Aufstieg unseres Volkes. Nach tausend Jahren entstand das Reich der Kemi wieder, erhob sich, blutbesudelt durch Krieg, aus dem Nebel vergangener Zeiten. Wir hatten damit nichts zu tun. Und hatten es noch viel weniger gewollt. Konnten wir uns immer noch als von Adel bezeichnen, wenn "unser" Land nicht mehr besetzt war von Fremden, sondern verwaltet von den treuen Akib einer Nisut von Vesers Gnaden, so wie wir einst es taten in alter Zeit? Konnten wir unser Volk immer noch in der bequemen Rolle eines von Veser verstoßenen sehen? Nein - auf einmal hatte unsere Familie ihren Sinn, ihre Berechtigung verloren. Dass nebenbei unsere Familie auf ihrem Sommersitz durch plündernde Banden fast vollständig ausgelöscht und ich zum Vollweisen wurde, weist du bereits. Wären meine Eltern, Großeltern oder Mutterschwester Sem-aketh-ati noch am Leben, so makaber es klingt, niemand hätte mir die unvergesslichen Studienjahre in Methumis gewährt. Deine Freundschaft und die deiner teuren Frau Mutter - bitte grüße mir ihro Wohlgeboren und wünsche ihr der Zwölfe Segen - sind mir heilig und kostbar, eure Freundschaft war mir immer mehr als die verblassten Erinnerungen an die toten Eltern. So aber ist nun mein Bruder Boronian (eine krude Translation seines Namens Veser-Ra-Tep) Oberhaupt unserer Sippe...."

(aus einer Korrespondenz des Amenkhare Mekath)


 

Boronian Me'káth

"Boronian Me'káth? Ich weiß nicht viel über ihn. Sicher, seine Familie ist vielleicht ebenso alt wie die unsere, aber die Me'káths haben es nie geschafft, die Möglichkeiten, die in der Veränderung und in neuen Einflüssen liegen, zu nutzen. Möglicherweise ändert sich das, wenn sie mehr Verantwortung übertragen bekommen. In die Familie einzuheiraten, war sicherlich eine strategisch gute Entscheidung, auch wenn mir meine Nichte sehr leid tut... menschlich ist ihr Gemahl sicherlich kein einfacher Umgang..."
(Quenadya Mezkarai, Sahet Ni H'Anyârco)


"Die Me'káths sind das Paradebeispiel von Verfall, der direkt aus der Dekadenz mündet. Sie sind bisher ihrer Rolle und Aufgabe in diesem Lehen nicht gerecht worden. Ich bin ja beileibe kein Freund von ethnologisch motivierten Belehnungen, aber die neue Ordnung des Reiches gebietet mir, die Traditionen in der Förderung dieser Familie zu berücksichtigen."
(Dio Cardassion de Cavazo, Kanzler der Kemi)


Wenn ich ihn heute sehe, seine Gestalt, seinen bronzefarbenen, säuberlich enthaarten Leib nur von einem nachtschwarzen, exakt gefälteltem Seidengewand verhüllt, ein kostbares Rabenpektoral und geflochtene Sandalen angelegt, würdevoll und stolz die Bürde seiner Familiengeschichte tragend, glaube ich noch den Mann zu erahnen, den ich einst einmal geliebt habe. Es ist sein Gesicht, das sich gleich seiner Seele von Boronian Me'káth in Veser-Ra-Tep Me'káth zurückverwandelte, das Gesicht, das mich heute anblickt wie einen dämonischen Versucher, der ihm nichts mehr anhaben kann. Seine sinnliche Leidenschaft in der Liebe zu mir, die heiße, kompromisslose Anbetung seiner Tochter verwandelte sich in ebenso leidenschaftlich kompromisslosen Hass, längst nicht nur uns, sondern seinem Leben und seinen Mitmenschen gegenüber, die ihn von seinem vorbestimmten Lebensweg abgebracht und ihn in jenes zwittrige Wesen verwandelt haben, als das er sich heute sieht. Seine Augen, seine schwarzen Augen mit den so zarten langen Wimpern und den rasierten Brauen, einst in ihrem unergründlichen Feuer meine Glut erhitzend in schwüler Nacht, verbrennen mich heute in ihrer herabschätzend lodernden Abscheu von innen. Seine sinnlichen, vollen Lippen, sein weiches, zart feminines Gesicht sind zu einer Maske des Ekels erstarrt. Einige sagen, sein Blick zeuge von unverbrüchlicher Loyalität, von Treue, Gewissen, Ehre, gar absoluter Ehrlichkeit- was wohl tatsächlich in unserem Stand, in unserem Land eine Seltenheit darstellt - ich weiß, dass es die Loyalität eines Menschen ist, der sein Leben im Tod sucht und dessen Ziele nur noch der Erhaltung der gefährdeten Familiengüter und alter Clanprivilegien dienen. Er ist ein Fatalist, Fundamentalist, hasst alles neue und Fremde und sieht in der Einhaltung der abertausend göttlichen Gebote den einzigen Lebenszweck. Gesprochen hat er seit wohl fünf Jahren mit niemand mehr etwas außer geschäftliches, sein Leben selbst findet nicht mehr im Hause, sondern in den alten Tempelruinen statt, die er Nächte lang zu Meditation und Gebet aufsucht.
Ich weiß, dass das, was er sucht in Boron - Vergebung, Trost, Bestätigung, Ruhe - niemals finden wird. Zu sehr hatte er die Genüsse dieser Welt kennen gelernt und als ob es kein morgen gäbe davon getrunken in seiner Jugend, als dass sie ihm - ich ihm - aus seinen Gedanken weichen könnten. Je mehr er es versucht, desto mehr wird es ihn zerreißen, ihn aushöhlen und zernagen. Seit seiner Jugend, als er den hohlen Titel des Patriarchen des dünnblütigen Me'káth - Clans erbte nach der göttergewollten Ausrottung seiner Sippschaft, als er die von den Vätern und Vorvätern auferlegten Meditationen und Gebete, die seine in ihm schlummernden Kräfte hätten kontrollieren können, aufgab, weil er sie hasste, wie er sein ganzes in Traditionen, Stille und Armut ersticktes Leben hasste, weil er sie hasste, wie er heute sein neues altes Leben hasst, seit dieser Zeit, in der er alle Triebe und Begierden, Wünsche und Leidenschaften kennen lernte, sich hemmungslos ihnen hingab, was ihm heute und damals verboten, seit dieser Zeit hat er etwas in sich geweckt, etwas von dem er weiß, dass es niemals schweigen wird, dass es schreit in der emsigen Stille des Arbeitszimmers, dass es schreit in der kalten Stille der Nacht, dass es schreit in der asketischen Stille der Tempelruinen, dass es ihn martert, weil er es darben lässt und verkümmern. Die Erinnerung an sein Leben, die Erinnerung an seine Liebe...
Es wird ihn zerbrechen. Für mich wird es Genugtuung sein, Linderung der Wunde, die er mir zugesetzt hat. Heilen wird es mich nicht.

(aus dem Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn)


Ich kenne meiner Schwägerin Urteil über meinen Bruder sehr genau. Ich kann es sogar verstehen. Doch sie kannte ihn, im Gegensatz zu mir, nie in seiner wahren Gestalt. Jeder Mensch ist nur die Summe seiner Teile, sagte mein Professor stets, und treffender könnten diese Worte nicht sein meinem Bruder gegenüber. Wir wurden geboren in einer bewegten Zeit in unseren Landen, die Heldentaten der erhabenen Nisut und ihrer Getreuen werden unvergessen sein, wir aber sahen nur die Schattenseiten dieses Glanzes. Plünderungen und Zerstörungen zerrütteten unsere Familie und der Tod fast aller unseres Clans in diesen Zeiten raubte uns unsere Wurzeln. Es war jene Zeit, in denen unser Vormund und letzter Überlebender der Großjährigen unserer Sippe, Vaterbruder Meröet-Erôn, dem Glauben verfiel, noch mehr Entbehrung, noch mehr Schweigen, noch mehr innere Kälte, in seinen Augen der reinste Weg zu sittlicher Stärke und Vollkommenheit, würden uns reinigen vom Zorn Borons, den er über uns wähnte, und so wurden wir von ihm, der uns Vater und Mutter sein sollte und doch beides nicht war, in den Übungen der Selbstvertiefung und den Morallehren des Veser-Ratep unterrichtet.
Doch während mir die Möglichkeit gegeben wurde, mit meiner Großtante nach Vollendung des zehnten Lebensjahrs in die Lande der Horas zu reisen und wenn auch in Armut den Luxus all der freien Gedanken und Genüsse zu Methumis zu genießen, die Leiden der strengen Zucht zu verdrängen und meinen Geist zu entfalten, und während meine Schwestern ihm entfliehen konnten durch frühe Heirat, war Boronian ihm stets gänzlich ausgeliefert. Denn in ihm keimte eine Macht, mit der seit Jahrhunderten unser Blut gesegnet war, eine Macht, die auch in meinem Vaterbruder ruhte und die dieser zu stärken gedachte durch vielerlei Übung. Doch während er die Macht stärkte und formte und sie gedieh durch sein Tun, verkümmerte die Hülle der Macht, mein Bruder. Schreckliches muss er erlitten haben in dieser Zeit, und all die dunklen Seiten des Seins, die heute sein Wesen beherrschen wurden damals geweckt von der kalten Hand des Meröet-Erôn. Was zu den Zeiten geschah, als aus dem Zögling ein Mann reifte, als er mit all die Kraft der Jugend seinen Hass nährte, auf Meröet, auf die Traditionen unseres Clans, auf seine Einsamkeit, auf sein Schicksal, auf sein Leben...weiß ich nicht zu sagen. Nur eins weiß ich: Dass Meröet seinen Tod fand bei einem Streit mit seinem Schüler. Die Mächte, die er genährt hatte mit dem verlorenen Glück der Jugend, denen er versucht hatte, Boronian selbst zu opfern, wandten sich gegen ihn, wie so oft in der Geschichte.
Niemand berichtete je von diesen Vorfällen. Mein Bruder jedoch stürzte sich in das Leben, entdeckte die Freuden der diesseitigen Welt. Er bereiste die Länder des Südens, lernte die Genüsse der Speisen, der Bildung und gar die der Liebe kennen. Und nicht nur das: Als neues Sippenoberhaupt eiligst für großjährig erklärt, öffnete er unser Haus der neuen Zeit, konsolidierte unsere Macht wenn nicht politisch dann doch wirtschaftlich zu alter Größe. Von seinen Sternenmächten beschützt und durch die Würde des Familiennamens begünstigt, gelang es ihm gar, mit Atides dylli Ayodon einer Frau angetraut zu werden, deren noble Herkunft aus den edelsten Linien der Inselreiche von Kemi und Cyclöpäa ihn wieder in die Welt der neuen Großen des Reiches brachte. Ja, glückliche Zeiten waren über unserem Haus angebrochen, der Schleier des Vergessens schien sich zu lichten, der faulige Geruch jahrhundertelangen Moderns schien verzogen. In seiner Frau fand er nicht nur eine noble und geistreiche Freundin, interessierte Beraterin und ehrgeizige Mitstreiterin, sondern gar eine Geliebte. Bald wurde Boronya Nemekathe geboren, auch ich verbrachte wieder immer mehr Zeit im alten Palast unserer Sippe.
Die alten Traditionen, das zurückgezogene Leben in Stille, die Meditationen, die dunklen Riten, die unserer Familie über so lange Zeit den Fortbestand gesichert hatten, vergaßen wir und verdrängten sie. Waren sie aber für uns nur mehr eine verblasste Erinnerung an eine schmerzvolle Kindheit, waren sie für meinen Bruder, der so lange so einsam durch ihre kalte Hand erzogen wurde, viel mehr gewesen. Die dunklen Lebensweisheiten seiner Jugend, die er doch mit dem Mord an meinem Vaterbruder überwunden zu haben schien, bestimmten noch immer sein Gewissen, immer wieder verfiel er in Melancholie und Düsternis, schien aus der Welt entschwunden zu sein. Der alte Moralcodex, so sehr seinem neuen Leben widersprechend, nagte an seiner Seele mit Vorwürfen. Niemals war Boronian sicher gewesen, dass er in seiner Rolle als Familienoberhaupt nicht Schande und Unglück mit seinem verruchten Lebensstil über uns alle bringen würde, müsse er doch ein Vorbild an tugendhafter Gottesfurcht sein. Doch solange uns das Glück hold war, solange wir gesegnet waren, obsiegten seine Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern.
Bis zu jener Nacht: ich erinnere mich noch an sie, ein lauer Abend hatte sie eingeleitet. Dame Atides stand vor ihrer Niederkunft mit ihrem Sohn, den sie später Kemet heißen würde. Doch in dieser Nacht sah es nicht danach aus, als ob sie oder ihr Kind die Geburt überleben würden. Ich kann und möchte nicht mehr darüber schreiben als notwendig. Ich weiß nur, dass es der Beschluss Borons gewesen war, das Leben Dame Atides und ihres ungeborenen Kindes an sich zu nehmen. Ein Beschluss, den Boronian als Strafe für seine Sünden ansah. So nutzte er seine verborgene Macht um Boron zu trotzen, und in finsterer Zauberei riss er die Toten von Golgaris Schwingen herab. Sie überlebten beide und genasen. Doch mein Bruder war - nach Tagen völliger Regungslosigkeit- wieder in sein altes Gefängnis der Dunkelheit zurückgekehrt. Er weiß, dass er sich an Boron höchstselbst versündigt hat, und er weiß, dass ihn das sein Seelenheil kosten wird.

(aus der Korrespondenz des Amenkhare Me'káth)


 

Boronian Me'káth nahm seine Aufgabe als Akîb nur ungern an, ist er doch den weltlichen Angelegenheiten mehr und mehr abhold. So trat er nach kurzer Zeit gerne zugunsten seines verhaßten und mittlerweile von ihm verstoßenen Verwandten Kemet'amûn zurück, auch das Amt des Inquisitionsrates von Djunizes legte er bald nieder und beschränkt sich seitdem darauf, dem Untergang seiner einstmals mächtigen Familie zu überwachen.

 

Atides dylli Ayodôn

"Mein Name ist Atides dylli Ayodôn, Tochter des Cyclopäers Iolaos dylli Ayodôn und seiner Gemahlin Zahît Mezkarai. Über meine edle Geburt habe ich mir weder jemals etwas eingebildet noch wusste ich, was es für mich bedeutet. Vielleicht beginne ich es heute erst zu verstehen. Ist in den Tagen meiner Kindheit und Jugend etwas geschehen, was mich wirklich berührt oder fasziniert hätte ? Nein. Vielleicht ist das der Grund für meine hochgesteckten Ziele.
Was für Ziele ? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich neugierig bin. Die Welt möchte ich sehen. Ich möchte in Kuslik über die Prachtstraßen schlendern und in den Schaufenstern die neusten Moden begutachten, in Vinsalt die Oper besuchen, in Punin das Pentagrammaton bestaunen, in Khunchom über die Fürst-Istav-Allee schlendern und der Sphingis von Fasar Rätsel aufgeben. Ich möchte...Ich bin mir nicht sicher, ob ich all das wirklich möchte. Ich weiß nur, dass ich nicht in einem Jahr mit aufgeblähtem Bauch ein Balg vor mir herschieben will, es nähren, großziehen und all die anderen grässlichen Dinge tun, für die ich noch viel zu jung bin. Ich weiß, dass größere, erhabenere Ziele auf mich warten als zu einem fremden Mann in einen uralten finsteren Palast verheiratet zu werden. So grausam kann das Schicksal, können die Götter nicht sein, mein Leben zu beenden, bevor es anfing.
Ich weiß, das ich demütig und dankbar sein sollte für mein Leben, für all die Vorzüge dich ich genieße. Ich kann mich soweit es meine Geburt zulässt entfalten. Ich kann mich in den Werken Caraderios, Imayls und Schönbaums und den Gedichten Feccatieros verlieren, horasischem Spinett lauschen, durch Gärten spazieren - ich muss nicht reisen, um die Welt kennenzulernen - ich kann sie mir hierher holen, auch wenn ich hier am weitesten von allem entfernt bin. Ich kann mich meinen Blumen widmen, der Armenfürsorge, der Handarbeit, dem Studium klassischer Werke. Das Leben an mir vorbeifließen lassen.
Der Mann, der mich ehelichen wird - er stammt übrigens aus einer verknöcherten alten Kemisippe -, wird mit mir zufrieden sein können. Ich bin schön. Ich habe das Profil einer bosporanischen Plastik und ebenso deren elegante, hochgewachsene Gestalt. Ich habe einen sinnlichen Mund, klug und erwartungsvoll blickende Augen, mein Gesicht strahlt SelbstbeWUSstsein aus. Das schwarze Haar ist füllig und wallend, ich stecke es zu Steckfrisuren zusammen.
Ich rieche gerne gut! Dass ist sehr wichtig für mich. Viele Frauen sind schön und sinnlich. Aber die meisten achten nicht auf ihren Geruch. Die einen lassen alles weg und riechen zum Rahjaerbarmen, bei den anderen ahnt man zwar, dass sie mit ihrem Duftwasser die Ausstatter um Dukaten reicher gemacht haben, mehr aber auch nicht. Dazu kommt noch der Geschmack. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Liebhaber "Kanäle von Grangor No.5" auf der Zunge hat, wenn er mich schmecken will... Deswegen bevorzuge ich feine Öle. Ich möchte ein Fest für jeden Sinn sein. Mein Ehemann soll mich anbeten können, hassen kann ihn immer noch ich.
In Wirklichkeit erhält der Ärmste doch ein Koboldsgeschenk. Ich habe grauenvolle Seiten an mir. Ich bin gierig, herrschsüchtig, besserwisserisch, altklug, launisch, unzufrieden, überwachend, habe einen exquisit teuren Geschmack, eine niedere Moral, ein viel zu aufgeklärtes Götterbild und werde sicherlich eine Rabenmutter. Meine Mutter sagte einmal, dass man mir meine Rondrageburt anmerke bei allem, was ich tue. Dazu stehe ich! Ich weiß nicht, wer denn kemschen Verhaltenskodex aufgestellt hat. Ich liebe es spontan zu sein, aufbrausend, streitsüchtig. Ich möchte nicht unkompliziert sein. Wenn das meinen Lebensweg steiniger macht...nun gut!"

(Erster Eintrag in das Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn, 21 S.G.)


"Ja, es hat ihn steiniger gemacht, meine Liebe. Aber auch um wie vieles glücklicher und reicher. Ich möchte nicht in Wehmut verfallen über den Verlust der Ideale meiner Jugend, wenn ich meine alten Einträge durchsehe. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern. Zu jung bin ich auch noch dazu, mein Leben liegt immer noch vor mir. Ich bin immer noch aufbrausend, besserwisserisch und launisch. Ich bin aber zur eigene Überraschung eine gute Mutter geworden. Seitdem die Kinder ihren Vater oder zumindest dessen Liebe verloren haben, lasse ich Boronya Nemekathé und Kemet Balträa sogar noch mehr Liebe angedeihen. Aber keineswegs bin ich mütterlich, weich oder sogar schwach. Im Gegenteil. Meine Ehe war ein wohl größerer Kampf als die Unabhängigkeitskriege, bloß fand er auf der Ebene des Geistes statt. Bei beiden Seiten ging es um das Überleben, um die nackte Existenz. Ich bereue ihn nicht. Es hat mich gestählt. Was hätte ich davon, mich selbst zu zerfleischen für Dinge, die ich gesagt habe, getan habe. Die Entscheidungen von gestern zu verurteilen heißt mein Leben von heute in Frage zu stellen.
Ich bin, jetzt und heute, glücklich. Was für ein Hohn, nicht wahr. Wie kann ich, gestrandet in einem öden Paradies wie Taimen, glücklich sein? Wie kann ich glücklich sein in einem halbverfallenen Palast, mit einem Ehegatten, der mich und meine Kinder hasst wie die Niederhöllen, und einer Sippschaft, die mir allein die Schuld dazu gibt ? Verdorrt man nicht, verkümmert nicht der Geist, der Geschmack, die Liebe ? Keineswegs. Ich kam über die Katastrophe schneller hinweg, als ich erwartet hatte. Die Wunde einer verflossenen Liebe heilt niemals, sie verkrustet nur und kann jederzeit wieder aufbrechen, das weiß ich. Aber die Zeit vergeht, und man ist wieder offen für eine neue Liebe, die wiederum die erste tatsächliche zu sein scheint. Ich weiß gut, dass ich mit ihr meinen Titel, meine Ehre besudelt habe, dass es nicht meiner Würde entspricht, einen einfachen Fischer im Dorf zu lieben. Aber bin ich hier nicht im Paradies ? Er ist unserer Tochter Jesabella und ihren beiden großen Halbgeschwistern ein besserer Vater als es Boronian jemals war. Er ist liebevoll, zärtlich, feinsinnig, mitfühlend, schön wie Khabla -und ein Liebhaber wie dessen Sohn. Er ist kein Favorit für mich, mit dem ich mich über die Einsamkeit einer vernachlässigten Ehefrau hinwegtröste. Ich liebe ihn.
Und auch sonst läuft in meinem Leben alles bestens. Neben einer guten Mutter für meine Kinder versuche ich das selbe auch für meine Untertanen zu werden. Ich käme mir schäbig vor, auf Kosten meines Mannes mich mit meinem Liebsten zu vergnügen, so versuche ich, noch härter zu arbeiten als er selbst. Ich glaube mich rühmen zu können, kein Goldstück unseres ruinösen Haushalts vergeudet zu haben. In unserem Haushalt wird noble Armut gepflegt. Trotzdem, ich widme mich der Armenfürsorge. Und auch dem Studium klassischer Werke, der Handarbeit, dem Spinnet- ein kleines Abenteuer, es zu erhalten - und der Literatur. Meine Schriftstellerei treibe ich zur Zeit voran, einige meiner Gedichte und Erzählungen konnte ich sogar dank der Kontakte meines Schwagers Amenkhares, der mir in den letzten Jahren ein teurer Freund und unerbittlicher Kritiker meiner Arbeit geworden ist, unter Pseudonym in einigen Literaturzeitschriften Bosporans veröffentlichen. Zwar war der Erfolg nicht überwältigend, aber ich habe die Möglichkeit, meinen ersten Roman in Druck zu geben.
Ich habe Táîmen lieben gelernt. Es ist wirklich ein Paradies. Ich liebe das Meer, den Dschungel, die Seen. Aber auch die Menschen. Nicht nur wegen meines Geliebten. Sie sind freundlich, offen, ungezwungen, oft schamlos und sehr, sehr liebevoll. Ich weiß nicht, ob das "einfache Volk" überall so vollendet ist wie hier. Jedenfalls halte ich es keineswegs für einfach. Ich genieße es in den wenigen Momenten, die es die Etikette erlauben, unter ihnen zu weilen. Aber das gute an einem Mann, der nicht mit einem spricht, ist, dass es niemanden gibt, der mir nun gleich ist und maßregeln darf. So liegt es in meinem Ermessen, wie ich mit ihnen umgehen muss, damit sie uns ehren und fürchten.

(Eintrag in das Kopfkissenbuch der Dame Atides dylli Ayodôn, 28 S.G.)