Im'sêth sun Kem-Atèf

Akîbet Ni Rekmehi

Im'sêth ist eine Angehörige einer der wenigen alten Kemi-Familien. Die Kem-Atèfs sind eine kleine Familie und Klientel der corvikanischen Tem'kats. So, wie in ihrer Familie der Gott der Toten seit vielen Jahrhunderten verehrt wird, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, daß auch sie ihr Leben dem schweigsamen Boron widmete. Sie erhielt schon sehr früh eine Ausbildung in der Waffenkunst, lernte mit Stab, Schwert und Streitkolben genau so gut umgehen wie mit den bloßen Händen.
Als die Zeit gekommen war, den rechten Weg zu wählen trat sie in den Orden der Wächterinnen und Wächter des Kultes des Hl. Raben zur Insel Laguana ein. Dort erwartete sie eine harte und entbehrungsreiche Novizenzeit, in welcher sie sowohl ihre Kampffertigkeiten als auch ihre Ergebenheit zum Herren Boron weiter vervollkommnete und festigte. Sie war eine ernste und schweigsam Novizin, stets ihren Blick auf das nächste Ziel, den vor ihr liegenden Weg gerichtet. Und so kam es, daß sie nach ihrer Novizenzeit recht schnell mit Missionen beauftragt wurde, die Gefahren in sich bargen und die andere ihrer Waffengefährten überlastet hätten.
Im'sêth war viel unterwegs und trug das Wort des Herren über die Grenzen des Kemireiches hinaus, zu den Wilden und zu den Achaz. Ihr wurde Verantwortung übertragen, Verantwortung über das Leben anderer Waffengefährten. Sie wurde mit den Schutz von Missionaren betraut und half auch so, das Wort des Herren zu verbreiten. Auch hier ging sie stets in borongefälligem Ernst vor, den Blick auf die Erfüllung der Aufgabe gerichtet. "Wenn Du während der Erfüllung Deiner Aufgabe lachst, dann siehst Du nicht den Ernst Deiner Aufgabe. Deine Heiterkeit lenkt Dich ab und Du wirst scheitern." Diese Lehre empfang sie einst von ihrem Vater, der dem Raben als Geweihter diente. Und diese Lehre verbreitet sie weiter.

 

Bei einer dieser Missionen begegnete sie einer Piratin, Caljinia Han s'Olo, wie die Moha sie nannten. Die Begegnung stand unter keinen guten Stern, war ihr erstes Treffen doch ein Kampf, welcher sich über mehrere Wochen hinzog und von keiener Seite gewonnen werden konnte. Allerdings lernte Im'sêth Caljinia während dieser zeit als eine würdige Gegnerin kennen und zwischen beiden Frauen entwickelte sich eine Art Hochachtung, wie sie nur zwischen erhevollen Gegnern entstehen kann. Diese Hochachtung und die Beziehung zu Caljinia sollte die Laguanerin auf ihrem weiteren Weg begleiten.
Mit fortschreitender Zeit stieg auch Im'sêth im Orden weiter auf. Ihr Ernst in der Erfüllung ihrer Aufgaben veranlasste ihre Vorgesetzten dazu, die Frau mit immer diffizileren und delikateren Missionen in Namen des Herren zu betrauen. Diese Missionen dienten einzig und allein dazu, das Wort des Herren zu verbreiten, seinen Ruhm zu mehren und die Gläubigen vor den Heerscharen der Ungläubigen zu schützen. Trotzdem ist es der Wille des Herrn, daß Einzelheiten über diese Missionen vom Mantel des ihm gefälligen Schweigens bedeckt werden. Häufige Unterstützung bei ihren Missionen erhielt sie von jener Piratin, die sie auf den Waldinseln kennenlernte.
Auch wenn ein Diener von seinem Herren keinen Dank zu erwarten hat, so ist es doch eine der Tugenden der Herrschaft, daß man die Verdienste seiner treuen Diener belohnt. Im'sêth trachtete nie nach Lohn, sie lebte streng nach den Lehren des hl. Laguan und nannte nie mehr als ihre Rüstung, ihr Schwert und ihren Speer ihr eigen. Und doch gefiel es dem Herren, seiner Dienerin Belohnung zukommen zu lassen. Die Vorgesetzten Im'sêths erkannten den Willen des Raben, ernannten sie zur Akîbet und übergaben ihr die Tá'akîb Rekmehi.

 

Im'sêth sun Kem-Atèf ist eine Frau von nicht ganz dreißig Götterläufen. Ihre nachtschwarzen Haare sind immer kurz geschnitten und streng nach hinten gekämmt, mit einem Scheitel auf der linken Seite. Der Nacken der Frau wird von einem dünnen, bis zu den Schulterblättern reichenden Zopf geschmückt. Ihre Haut ist weiß, nicht blass, wie man das von manchen anderen Adeligen kennt, sondern natürlich weiß. Sie hat fein geschnittene Augenbrauen und rabenschwarze Augen. Ihr Gesicht blickt fast immer ernst, aber nicht traurig in die Welt. Man kann sehen, daß es jener Ernst ist, der von Pflichterfüllung und Taten spricht. Die Frau ist meist in schwarz gefärbtes Iryanleder gekleidet, welches aus der Haut einer Echse gefertigt ist, die sie während einer ihrer Missionen selbst erschlug. Ihre Füße stecken in bequemen ledernen Stiefeln. Ihre Bewegungen sind von einer eleganten Knappheit, die die geübte Kämpferin verrät. Im'sêth trägt keinerlei Schmuck, noch verwendet sie irgendwelche Schönheitsmittel. Als Waffen führt sie den Speer, das Schwert oder den Rabenschnabel.

 

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Despektierliche Äußerungen über den verstorbenen Neset von Grauenberg und mangelnder Respekt vor der Obrigkeit führten dazu, daß die Akîbet im Jahre 31 S.G. ihres Amtes einthoben und nach Tásebá versetzt wurde, um dort im neuen Tempel des Herrn über die Tugend der Demut zu meditieren.