Tjarve ter Brook

Kanzleirat

Geboren wurde der ehemalige Akîb ni Táni Morek und jetztige Kanzleirat am 26. Boron des Jahres 1 S.G. im schönen Vinsalt. Seine Eltern, eine junge Nandus-Geweihte und ein Weidener Kaufmann, ließen ihren Sohn von einer exzellenten Lehrerin unterrichten, nämlich seiner Mutter. So kommt es, daß Tjarve nicht nur die Umgangsformen ausgesprochen gut beherrscht, sondern auch sonst sehr gebildet ist. Noch dazu schlug der Junge schon früh nach dem Vater, der ihn lehrte, sich in der harten Welt der feinen Gesellschaft zurecht zu finden. Alle Naivität des Jungen wurde schnell ausgemerzt, und machte einem fast schon krankhaft zu nennenden Mißtrauen Platz, "Wissen ist Macht" war der Leitspruch der Eltern.


Mit 17 setzte sich Tjarve gegen den Willen seiner Eltern durch, die ihn als Nachfolger der Geschäfte des Vaters sahen. Diese Position soll nun seine sieben Jahre jüngere Schwester Eleana besetzen. Er wanderte zunächst nach Thorwal, kurze Zeit später zog es ihn aber schon Richtung Mittelreich. Trallop, die Geburtsstadt seines Vaters, Punin, Gareth waren seine nächsten Anlaufstationen. In dieser Zeit war er entweder als kleiner Händler unterwegs, oder er verdiente sich ein paar Münzen in Begleitung einiger Glücksritter, bevor er in Festum landete.
Dort heuerte er auf einem Schiff des Hauses Stoerrebrandt an. Mit unermüdlichem Eifer arbeitete Tjarve sich in kürzester Zeit in der Firma nach oben, erlangte schnell auch das Vertrauen der Familie Stoerrebrandt selbst. Diese erkannte die schlummernden Talente des inzwischen 20-jährigen und setzte ihn in Port Stoerrebrandt als Leitender Kommissar ein, dessen Aufgabe es war, die wichtigsten Handelsniederlassungen des aufstrebenden Kemi-Reiches zu infiltrieren. Mit seiner sechsköpfigen Gruppe, allesamt ausgebildete Agenten des Handelshauses, war es ein Leichtes, Einfluß selbst bis in die höheren Etagen des KKAB zu erreichen. Der Cancellarius, Dio Cardassion de Cavazo, machte ihn zu einem seiner Agenten, nicht wissend, daß Tjarve ein Doppelagent war. Damit hatte Tjarve einen wichtigen Erfolg für Stoerrebrandt erreicht. Eines Tages erkrankte jedoch Tjarve in Khefu an Blutigem Rotz. Auf dem Krankenlager lernte er die hübsche Pflegerin Lanka kennen, in die er sich schnell verliebte. Nach seiner Genesung kehrte er nach Port Stoerrebrandt zurück. Zwei Monde später ehelichte er Lanka. Nach und nach begann Lanka, ihrem Angetrauten die Augen über die Situation der Kemi zu öffnen. Sie schaffte es, Tjarve für die Kultur der Kemi zu begeistern, und nachdem der Kommissar durch Cavazos Einfluß der Nisut selbst vorstellig werden durfte, war es dank ihres Charismas ganz um ihn geschehen.


Die Informationen, die der Agent von nun an dem Hause Stoerrebrandt zuspielte, waren ebenso wertlos wie die Stoerrebrandt´schen Informationen für den Kanzler brisant waren. Es kam, wie es kommen musste, der Schwindel flog nach einigen Monden auf und die Festumer versuchten, das Ehepaar Ter Brook zu verhaften und anzuklagen. In einer spektakulären Flucht konnte sich Tjarve auf ein ablegendes Schiff retten, dessen Besatzung ihm treu ergeben war. Lanka ter Brook jedoch schaffte es nicht. Tjarve musste mit ansehen, wie langsam der Lebensatem aus dem Körper seiner schönen Kemi wich, drei Armbrustbolzen hatten ihren Rücken durchbohrt. Sie starb kurze Zeit darauf in den Armen des Überläufers.


Seit diesem Tag hat man den jetzigen Akîb nie wieder in Begleitung einer Frau gesehen, so tief sitzt der Schmerz im Herzen dieses Mannes. Sein Haß auf das Haus Stoerrebrandt aber ist ebenso enorm. Der Kanzler zollte ihm seine Dienste mit einer Tá'akîb auf der Insel Aáresy, ein Unterfangen, daß zu meistern man nicht jedem Menschen zutrauen kann, wenn man das Lehen kennt.
Tjarve ter Brook ist heute ein bescheidener Mensch, der sich gerne in einfache Kleidung aus Leinen und Leder im Stile der Syllaner Piraten (!) gewandet. Sein Lieblingskleidungsstück aber ist eine Brokatweste, die ihm seine verstorbene Frau zum 1. Jahrestag ihres Traviabundes schenkte. Ständig trägt er einen Dolch und seinen Degen bei sich, da er, wahrscheinlich zurecht, einen Anschlag der Stoerrebrandter befürchtet. Gerüchten zufolge soll der Schaden, den Tjarve dem Handelshaus zufügte, sechsstellig sein! Der Haß wird also auch auf Gegenseitigkeit beruhen. Selbiger Informant behauptet aber interessanterweise auch, daß der mysteriöse Mord an dem Akîb Cherek ibn Perhiman al-Fessir ni Táni Morek und weiterer Personen vor einiger Zeit auf das Konto eben dieses Agenten geht...


Tjarve ist von recht angenehmen Äußerem und trägt mittlerweile sein blondes Haar kurzgeschoren. Seine Rasur läßt allerdings häufig zu wünschen übrig. Seine grauen Augen sind oft melancholisch, vor allem immer dann, wenn sich der Akîb alleine wähnt. In Gesellschaft jedoch wandern sie lebhaft und unstet umher. Er ist ein ausgesprochener Nachtarbeiter, der seine Aufgaben sehr ernst und pragmatisch angeht. Für Fehler aus Nachlässigkeit hat er keinerlei Verständnis, und nachdem er gleich zwei seiner Matrosen aus diesem Grunde kielholen ließ, hat sich die Mannschaft auch schnell an die neue Arbeitsweise gewöhnt...
Des Weiteren soll der Akîb ein leidenschaftlicher Anhänger des Immansports sein, man munkelt gar von einer beträchtlichen Spende an die Kobras Hôt Alem vor einigen Jahren und davon, daß er nun die Aushebung einer eigenen Mannschaft auf Aáresy plant.

 

Nach dem Zusammenbruch Tjarve ter Brooks während des Konvents 28 S.G.


Vertrauliches Gespräch am Krankenbett zwischen Imat Logoran von Selem und Tjarve, nachdem der Medicus den Patienten zur Ader gelassen hat und dieser einige Stunden später wieder recht bei Sinnen ist.
Logoran schaute Tjarve mit wohlwollendem Blick an: "Wie geht es Euch, mein Sohn?"
Der Angesprochene seufzte und schluckte dann zweimal, bevor er antwortete: "Danke, Ehrwürden, ich fühle mich schon besser. Ihr wißt ja, die Luft und das alles..."
Ein zustimmendes Nicken wurde unmerklich sichtbar unter dem langen Bart des Abtprimus. "Natürlich. Sie ist stickig, noch dazu verpestet mit Haß und Intrigen und der Profilierungssucht einiger weniger Adliger..."
"...die für sich den großen Aufstieg wittern?"
"Vielleicht. Aber das ist normal und nur allzu menschlich... Solcherlei Dinge sah ich oft und selten bekam es den Leuten gut, soviel Macht auf sich zu vereinigen. Nur wenige sind von den Göttern auserwählt, wirklich zu herrschen, ohne sich selbst zu verlieren.
Aber deswegen bin ja gar nicht hier..." Seine Stimme bekam einen merkwürdig aufgesetzt fröhlichen Tonfall. "Ich sprach gerade mit dem Medicus... Er sagte, Eure Lage wäre ernst zu nehmen! Ich weiß, ich falle sehr schnell mit der Tür ins Haus, doch stimme auch ich dem Heiler voll und ganz zu, was die Ernsthaftigkeit Eures Falls betrifft. Er war der Meinung, Euer Zusammenbruch war nicht ganz allein auf, nun, schlechte Luft zurückzuführen!"
Tjarve richtete sich auf, ein wenig zu schnell, um noch lange leugnen zu können, das die Mutmaßungen des Noioniten in die richtige Richtung gingen: "Sondern?"
Logoran runzelte die Brauen, atmete dabei tief aus der Nase aus und danach wieder ebenso tief ein, bevor er anhub: " Ihr könnt mir vertrauen, Akib. Ich bin nicht umsonst Imat des Noionitenklosters geworden und in diesem überaus erfolgreich mit meinem Dienst am Götterfürsten. Wenn Ihr es vorzieht zu schweigen, so ist das gewiß borongefällig und ich bin der Letzte, der Euch diese Gedanken herausprügeln wird. Aber Euch bedrückt etwas, was Euch einmal mehr schaden wird, ich spüre es. Wollt Ihr mir nicht davon erzählen? Wir sind unter uns! Ich weiß, daß da etwas mehr im Argen liegt als nur der hiesige Konvent. Es ist tief in Euch drin, hat sich eingefressen wie ein Rachedämon im vierten Kreis der Verdammnis. Ich kenne Eure Geschichte nicht, zumindest kann ich nur einiges mutmaßen. Doch schleppt Ihr ein, oder vielleicht mehrere Geheimnisse mit Euch, die Euch eines Tages das Leben kosten könnten, vielleicht nicht einmal auf gewaltsame Art..."
Tjarve schaute eine Weile gedankenverloren zum Fenster hinaus. Wieso eigentlich ausgerechnet der vierte Kreis?, kam ihm für den Bruchteil einer Sekunde in den Sinn. Es schien, als wollte er etwas sagen, er öffnete den Mund, doch kein Buchstabe kam über seine Lippen. Er schloß den Mund wieder, versuchte aufzustehen. Logoran half ihm und stützte den Akib, damit dieser zum Fenster gehen konnte. "Habe ich lange geschlafen?"
"Etwa zwei oder drei Stunden. Der Konvent ist noch voll im Gange. Als ich gerade den Saal verließ, um nach Euch zu schauen, pries die Akibet ni Cabas..."
Ein jähes Zucken durchfuhr Tjarves Körper, seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an, bevor sie wieder locker, geradezu schlaff vom Körper abließen, gefolgt von einem kurzen, für Außenstehende sehr eigenartig anzuschauenden Schütteln. Der Mann am Fenster konnte es spüren, daß Logoran diesen Namen nennen würde, wußte es im Voraus, und verabscheute den alten Mann dafür. Der Imat wußte Bescheid, hatte alles geplant, um ihn zum Sprechen zu bringen, wahrscheinlich hatte Phatapi nicht einmal überhaupt irgend etwas gesagt.
Phatapi. Oh Ihr Götter, habe ich nicht schon genug gelitten? Ich habe Euch doch schon einen Menschen geopfert, dachte er. Nein, zwei...
Wieso schickten sie jemanden, die eine solche gravierende Ähnlichkeit besaß? Sie war nicht genau wie sie, oh nein. Das nicht. Lanka war anders. Weniger geheimnisvoll, weniger extravagant, sie hatte nicht diese endlose Anmut wie Phatapi. Dennoch. Etwas an Ihr rührte in ihm wie eine Waschkelle im schmutzigen Zuber. Sie hatte ihn auf Anhieb an Lanka erinnert, und sie tat es bei jedem Blick, den sie ihm zuwarf. Nun, so viele waren es ja nun auch wieder nicht...
Ein Räuspern riß den Kranken aus seinem inneren Monolog. Oder hatte er jetzt doch etwas gesagt? Tjarve war verwirrt, mehr als je zuvor. Er kannte dieses Gefühl nicht, nicht so. Bei Lanka war auch das anders. Einfacher. Ja, das war es, was ihn verunsicherte. Phatapi war alles andere als einfach. Sie war wie einer dieser verdammten Storrebrandter Pfeffersäcke. Nein, den Gedanken muß ich zurücknehmen, dachte er. Der Vergleich ist zu abscheulich und beleidigend. Sie ist gewiß nicht so! Tjarve verfluchte sich innerlich für diesen Gedanken.
Er blickte durch die Scheiben, versuchte es zumindest, nahm dann zum ersten Mal wahr, daß man durch gefärbte Milchglasscheiben nichts sehen konnte. Ein zweites Räuspern. Hinter ihm. "Tjarve? Akib?"
"Ja? Verzeiht, ich bitte Euch um Vergebung, Ehrwürden!"
"Nicht doch. Ihr zeigt ein zu deutliches Verhalten für jemanden, der andere Sorgen hat, als sich bei mir zu entschuldigen. Habt Ihr es Euch überlegt? Wollt Ihr mit mir darüber reden?" "Ich muß noch mal um Verzeihung bitten, aber ich kann nicht. Nicht im Moment. Entschuldigt!" "Nun, vielleicht hat das wirklich noch etwas Zeit. Ich möchte aber, daß Ihr wißt, daß Ihr mich jederzeit ansprechen könnt. Ich bin für Euch da und leihe Euch mein Ohr. Wenn Ihr es benötigt, auch als Nachbar!" Dabei machte Logoran eine Geste, als wollte er sein rechtes Ohr vom Kopf abziehen und es Tjarve zuwerfen. Beide lachten kurz auf und dem Verliebten taten seine Gedanken von eben schon wieder leid. Er ist doch herzensgut, dieser Imát. Manchmal etwas wirr, aber herzensgut.
In dieser Situation hatten sich die beiden ungleichen Männer nichts mehr zu sagen. Logoran verabschiedete sich und ging zur Tür. "Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen!" Der Alte kramte in seinem Wams, fand aber offenbar nicht das, was er suchte. Die Hosentasche? Auch nicht. Dann fiel sein Blick auf den kleinen Lederbeutel, der auf der Kommode aus edlem Tiik-Tok-Holz lag. "Ah, da muß sie sein. Und tatsächlich! Ich denke, das gehört wohl Euch. Ich fand sie unter dem Stuhl, bevor Euer Nachbar Mahmut danach greifen konnte."
Der Noionitenpriester warf Tjarve eine kleine Phiole zu, in der eine klare Flüssigkeit munter hin und her schwappte. Tjarve sah Logoran mit großen Augen an. Ein verlegenes Lächeln zeichnete sich auf seine schmalen Lippen. "Danke!"
"Nicht dafür!" Mit einem undeutbaren und für Logoran von Selem so typischen Schmunzeln verließ er den Raum. Dann war Tjarve wieder allein mit sich. Nun öffnete er auch das Fenster und sog tief die frische Frühabendluft ein, die ein wenig nach salzigem Meerwasser duftete. Er schaute die gepflasterte Straße entlang, die zum Marktplatz der Hauptstadt führte, hörte die vielen Stimmen aus den angrenzenden Tavernen und dachte.